Tag 26: Donnerstag, 4. Juli 2019
Das Mädele das gar keins ist
Oberstdorf - Einödsbach - Waltenberger Haus - Mädelegabel - Waltenberger Haus
[Karte]
Ich will zeitig los und habe darum den Wecker gestellt. Einen Plan für die Tour habe ich mir gestern noch zusammengestiefelt und bin ganz zuversichtlich, dass ein schöner Zweitäger vor mir liegt. Nach dem Frühstück geh ich auf dem Weg ins Stillachtal noch kurz bei Edeka vorbei und hol mir Verpflegung für Unterwegs. Auf bekanntem Weg gehts bis Birgsau und dann hinauf nach Einödsbach, dem letzten bewohnten Weiler im Süden Deutschlands. Dort schliesse ich mein Fahrrad ab und setz mich für einen kurzen Moment in der wärmenden Morgensonne an einen Tisch, in der Hoffnung, noch schnell ein erfrischendes Schorle zu trinken. Aber die Tür zum Restaurant ist noch verschlossen. So lass ich das mit dem Schorle bleiben, aber warte noch einen Moment, damit der Schweiss vom Aufstieg etwas trocknen kann und um mich noch richtig einzucremen. Der Tag verspricht prächtig zu werden und auch wenn ich schon viele Tage auf dem Rad der Sonne getrotzt habe, muss ich mich immer noch brav eincremen. Ich hasse diese Pampe, aber das muss wohl sein ;-) Als ich dann loslaufen möchte, fällt mir ein Schild am Anfang des Weges auf, worauf die lieben Bergstieger aufgefordert werden, im Restaurant zu fragen, ob sie etwas für die Hütte mit hochtragen können. Mir gefällt die Idee und so drehe ich nochmal um und frage, ob es was zum hochtragen gibt. Der Haupteingang zum Haus ist offen und ich trete in den Speisesaal. Da dort niemand ist, stecke ich meinen Kopf mal in die Küche, wo ich einen Mann am werkeln sehe. Er nickt in eine andere Richtung, um mir wohl zu sagen, dass die relevante Person gleich kommt. Es scheint die Hausherrin zu sein und auf meine Frage hin zeigt sie mir eine Kiste im Hausflur, die mit grossen Brotlaiben gut gefüllt ist. «Darfst gerne mitnehmen, was Platz hat» meint sie dann, aber von diesen 1,5 Kilo schweren und grossen Brotlaiben kann ich nur einen mitnehmen. Mehr passt gar nicht in meinen gut gefüllten Rucksack. So starte ich dann kurz nach neun, zu meinem Zwischenziel dem Waltenberger Haus.
Einödsbach
Der Weg startet ziemlich giftig und folgt fast der Falllinie den Berg hoch ins Bacherloch hinein. Ein Seitental des Rappenalptales, das schon bald nach rechts abbiegt. Der Aufstieg wird dann etwas angenehmer und in schattigem niederen Buschwerk gehts der linken Talseite folgend stetig bergauf. Mir gefällt die Gegend und ich geniesse es, mal wieder mit dem Rucksack in den Bergen unterwegs zu sein. Sehr fit fühle ich mich nicht, fürs Wandern hilft da auch das Radeln nicht allzu viel. Nach vielleicht eineinhalb Stunden lege ich dann eine kurze Rast ein, als ich aus dem schattingen Niedergewächs heraus komme. Ich realisiere erst nach ein paar Minuten, dass vor und neben mir einige Türkenbunde in der Wiese stehen, die kurz vor der Blüte sind. Ich schau nochmal etwas genauer, entdecke immer mehr, aber noch keine, die offen sind. Diese Lilien sind einfach jedes mal wieder ein Hingucker und allzu oft begegnet man ihnen auch nicht. Ab nun führt der Weg über herrliche steile Blumenwiesen weiter aufwärts und nach einer Kehre an einer Felswand vorbei. Etwas unerwartet taucht dann plötzlich der moderne Rundbau des Waltenberg Hauses vor mir auf und ich rechne, dass das bestimmt noch eine halbe Stunde dauert, bis ich dort bin. Es geht dann aber etwas schneller als gedacht und gegen zwölf habe ich meine erste Zwischenstation erreicht.
Aufstieg zur Bockkarscharte
Ich liefere mein Brot mit den Worten ab: «Brot gegen Info.» Der Hüttenwart, der alleine in der Stube auf einer Bank gerade ein Nickerchen gemacht hat, schaut mich erst etwas verdattert an. Als ich ihm aber mein Vorhaben erkläre und ihn frage, ob meine geplante Route Sinn macht, nickt er mein Vorhaben ab. Ich habe mir vorgenommen, heute noch auf die Mädelegabel zu steigen und wieder hierher zurück zu kommen. Morgen dann ein zweites Mal auf den Heilbronner Weg aufzusteigen und über das Hohe Licht zum Rappensee und von dort dann zurück nach Einödsbach zu wandern. Er warnt mich dann, dass es noch extrem viel Schnee hätte und der Auf- und Abstieg zur Bockkarscharte nicht ganz ohne sei. Dann schaut er etwas skeptisch auf meine neuen Schuhe. Ich habe mir gestern niedere Trekkingschuhe mit fester Sohle und gutem Profil gekauft. Die Trekkingschuhe die ich zuhause habe, sind zwar immer noch alltagstauglich, aber das Profil ist abgelaufen und irgendwie können diese Schuhe nicht neu besohlt werden. Ist halt so, ich hatte extra mal per E-Mail beim Hersteller nachgefragt. Und weil die Schuhe eh ersetzt werden mussten, hatte ich mich gestern für neue niedere Trekkingschuhe entschieden. Ich meine dann, um die Schuhe müsse er sich keine Sorgen machen, ich wisse damit umzugehen und erkläre ihm auch, wieso ich mit diesen Tretern unterwegs bin. Seine Frau kommt dann auch noch dazu und gemeinsam erklären sie mir dann nochmal, dass der Weg zur Bockkarscharte ziemlich tricky und steil sei, besonders weil er im Moment noch komplett im Schnee liegt. Es hätte aber wohl gute Tritte.
Pierre auf der Mädelesgabel 2019 - 2645 m
Brigitte und Mami auf der Mädelesgabel 1952 - 2645 m
Den Schnaps der mir auf dem Schild im Tal fürs Brot herauf tragen versprochen wurde, lehne ich dann erst mal dankend ab und sage, dass ich den dann gerne am Abend einziehen werde. Vorab hätte ich lieber eine Schorle und endlich mal einen Kaiserschmarren. Da freut sich die Hüttenwartin und rühmt sich, dass ihr Kaiserschmarren sehr lecker sei. Das kann ich dann auch bestätigen und geniesse eine grosse Portion mit Apfelmus auf der sonnigen Terrasse. Der Ausblick ins Tal ist fantastisch. Die Sicht ist gut und die Quellwolken über den Gipfeln wirken harmlos. Ich buche dann noch mein Zimmer, erleichtere mein Gepäck aufs Minimum und laufe dann gegen halb zwei los. Die Hüttenwartin meinte noch, dass ich für Auf- und Abstieg ca. vier Stunden rechnen müsse. Das passt. So wäre ich gegen sechs wieder zurück und wenns wegen der schlechten Verhältnisse auch etwas längern dauern sollte, hätte ich noch mehr als genug Zeit. Schon nach ein paar Minuten erreiche in den Schnee, der schön kompakt und gut zu laufen ist. Bis zur Bockkarscharte hinauf brauche ich eine gute Stunde. Im oberen Teil steilt es dann nochmal zünftig auf, genauso wie mir das in der Hütte gesagt wurde und man muss sich ganz schön konzentrieren, damit man nicht abrutscht. Fehltritte sollte man sich hier keine leisten. Die letzten paar Höhenmeter sind dann wieder einfacher, weil schneefrei und im Fels, aber immer noch so steil, dass man auch mal die Hände zu Hilfe nehmen muss. Aber das mag ich ja. Der Blick auf die andere Seite überrascht mich dann doch etwas. Ich wähne mich auf einer Hochtour. Die komplette Flanke liegt noch unter einer dicken Schneedecke. Die Spur vom Höhenweg ist aber deutlich zu sehen und die Mädelegabel von hier in eineinhalb Stunden zu erreichen. Da die Zeiten hier eher grosszügig berechnet sind, denke ich, dass ich gut im Zeitplan liege und stapfe los. Plötzlich ziehen Nebelschwaden auf, die sich aber meist schnell wieder auflösen. Die eineinhalb Stunden auf dem Schild haben mich etwas irritiert und so verpasse ich prompt den Abzweiger auf den Gipfel. Mir waren aber auch keine Spuren aufgefallen, die mal links weg gegangen wären. Als sich der Weg dann um eine Flanke nach links wendet und ich die nächsten Gipfel sehe, werde ich etwas skeptisch. Die liegen zu weit weg und wären nie in den eineinhalb Stunden, wie es an der Bockkarscharte angeschrieben ist zu erreichen. Ich zücke mein GPS und sehe, dass ich bereits einen halben Kilometer zu weit gelaufen bin. Tja, da ist wohl das Schild für den Abzweiger noch eingeschneit und auch sonstige Wegmarkierungen liegen hier wohl noch metertief unter dem Schnee. So laufe ich zurück und behalte diesmal mein GPS im Blick. Kurz vor dem Abzweiger steige ich eine steile Flanke hoch, die mir einigermassen begehbar erscheint. Ich meine hier auch ein paar Spuren erkennen zu können, bin mir aber überhaupt nicht sicher, mag mich aber erinnern, dass weiter zurück die Hänge eher noch steiler waren, als hier. Dummerweise zieht seit dem ich umgedreht habe, immer dichterer Nebel auf, der sich nun auch nicht mehr auflöst und so fehlt mir die Übersicht um in diesem diffusen Licht nach einer gangbaren Route im Schnee zu suchen. Die Sicht beträgt höchstens noch hundert Meter. Ich nehme mir vor, noch die nächste Flanke hochzusteigen und dann nochmal zu entscheiden, ob ich weiter gehe oder nicht. Mein Gefühl war ganz gut. Dieser Aufstieg wird gegen oben zwar immer steiler, aber auf dem Rücken angekommen, sehe ich dann schneefreies, felsiges Gelände und treffe hier auch auf die offizielle Route, die sehr gut markiert und auch komplett schneefrei ist. So entscheide ich mich weiter aufzusteigen und den Gipfel in Angriff zu nehmen. Eine herrliche Kraxelei führt dann in schönem Kalk zum Gipfelkreuz. Ohne Hände geht es hier aber definitiv nicht mehr, aber das ist ok und macht richtig Spass. Der Aufstieg dauert vielleicht eine halbe Stunde, bis mir das Gipfelkreuz dann im Nebel entgegenzwinkert. Tja... nun ist es also geschafft. Seit ich mit der Planung dieser Deutschlandtour angefangen habe und mir Mami erzählt hatte, dass sie schon vor 67 Jahren mit Ihrer Schwester Brigitte hier oben auf der Mädelegabel sass, juckte mich dieser Gipfel ungemein und rundet nun meine lange Reise so wunderbar und stimmig ab. Ich werde ziemlich emotional, als ich hier oben in der Nebelsuppe am Gipfelkreuz sitze und mir vorstelle, dass Mami vor 67 Jahren, als 20 jährige junge Frau, vielleicht schon auf dem selben Felsen gesessen ist, wie ich jetzt gerade. Ich bin richtig gerührt und geniesse diesen Moment. Schade nur, dass genau jetzt die Wolken die Sicht hier vernebeln und ich nichts weitere als viel Grau um mich herum sehe. Ich verweile eine gute halbe Stunde auf dem Gipfel in der Hoffnung dass es vielleicht wieder aufreisst, aber die Situation ändert sich nicht. Im Gegenteil, es beginnt sogar leicht zu tröpfeln. Da hilft auch alles gut zureden nichts und so machte ich mich nach einem Gipfelselfie wieder auf den Abstieg. Das geht alles ganz zügig und bald erreiche ich wieder die Bockkarscharte. Ich höre einen Helikopter, der sehr nahe sein muss. Zu sehen ist aber immer noch nichts, da es immer noch zünftig herum wolkt. Als ich dann die ersten Meter absteige, reisst der Himmel wieder auf und ich sehe weiter unten, wie der Heli jemanden am Seil hat und zur Hütte fliegt. Einen Moment später hole ich kurz vor der Hütte zwei Frauen ein, die etwas unsicher im Gelände herumtappsen. Sie erzählen mir, dass sie grad ziemlich durcheinander seien. Sie hätten sich ziemlich überschätzt und sind von der Rappenseehütte über den Heilbronner Weg gekommen. Unterwegs sind sie einem älteren Ehepaar begegnet, das ihnen Unterstützung angeboten hat, damit die Mädels nicht alleine das steile Stück absteigen mussten. Im steilen Schneefeld sei die Frau dann gestürzt und mehrere Meter über Schnee und Geröll abgestürzt. Die beiden Frauen haben dann die Rettung alarmiert und wurden instruiert, vor Ort zu bleiben, damit sie in Verbindung bleiben können und nicht in ein Funkloch liefen, falls sie weiter absteigen würden. Uffa... ziemlich wilde Geschichte und die Zwei waren noch sichtlich geschockt. Ich helfe ihnen dann, indem ich für sie ein paar Tritte in den Schnee schlage, in denen sie etwas sicherer absteigen und die Hütte dann etwas entspannter erreichen können. Natürlich war diese Geschichte in der Hütte dann das grosse Thema des Abends.
Abendstimmung am Waltenberger Haus
Im Waltensberger Haus gibt es die Möglichkeit, heiss zu duschen. Gerne gönne ich mir diesen Luxus und kaufe mir für satte vier Euro, zwei Minuten warmes Wasser. Irgendwie verstehe ich System aber nicht ganz. Mir wurde erklärt, dass es einen Start/Stoppknopf gibt, den man betätigen muss, um das heisse Wasser ein- und auszuschalten. Also warm abduschen, dann das heisse Wasser abstellen, einseifen, heisses Wasser wieder einstellen und warm abduschen. Wenn das so funktioniert, reichen zwei Minuten Warmwasser problemlos. Was ich aber nicht geschnallt hatte war, dass man den Stoppknopf beim Wasserabstellen auch noch drücken muss, um die Zeituhr zu stoppen. Es genügt also nicht, nur das heisse Wasser abzudrehen. Ich stelle mich also unter die Dusche, knippse das Warmwasser an und spühle mich kurz ab. Dann Wasser aus und schön von Kopf bis Fuss einseifen. Als ich das Wasser wieder andrehe, kommen aber nur noch Eiswürfel aus der Leitung. Ich bearbeite panisch den Ein-/Aus-Knopf, aber der versagt seinen Dienst natürlich. Und so muss ich mich nach Luft schnappend mit eiskaltem Wasser abspühlen. So hatte ich mir meine vier-Euro Dusche beim besten Willen nicht vorgestellt. Den Kreislauf hab ich damit auf jeden Fall in Schwung gebracht und als ich mich wieder angezogen habe ist mir auch schnell wieder warm. Naja, ein etwas eigenartiges System. Später höre ich dann von anderen Besuchern, dass ich wohl nicht der einzige war, der das System mit dem Start/Stoppknopf nicht ganz verstanden hat. Da wäre ein Zettelchen in der Dusche doch ganz nett, die nochmal erklärt, dass dieser mysteriöse Knopf wohl nur den 2-minuten Countdown startet und stoppt und es dem völlig egal ist, ob in der Zeit heiss Wasser gebraucht wird oder nicht. Die Hütte war vielleicht zu einem Viertel besetzt. So mag ich das und so sitzt man auch nicht in einem überfüllten Speisesaal. Es gibt kein Stress an den Tischen oder mit dem Essen und es hat genug Platz in den Schlafräumen. In meinem Zimmer, das mir die Hüttenwartin zugewiesen hat, kamen keine weiteren Gäste mehr und so geniesse ich eine wunderbar ruhige Nacht. Der Schnaps, der mir vom Brot hochtragen noch zusteht ziehe ich nach dem Abendessen auch noch ein und die beiden Mädels offerieren mir für die paar letzten Meter, die ich sie noch zur Hütte begleitet habe, einen Zweiten hinterher. Ich geniesse einen ganz netten und geselligen Abend, zuerst draussen auf der Terrasse, bis es zu kühl wurde und dann drinnen in der gemütlichen und grossen Stube. Ich bestelle mir zwei oder drei Bierchen und die Welt ist für mich in Ordnung. Die Mädels stehen auch am Abend immer noch ein bisschen neben den Schuhen und meinen, dass sie sowas wohl nie mehr machen würden. Mich ärgert an der Geschichte, dass ihnen in der Rappenseehütte quasi eingeredet wurde, dass das alles keine grosse Hexerei sei und sie die Tour als junge sportliche Frauen bestimmt stämmen würden. Ich finde solche Motivationen oft etwas problematisch. Besonders bei Menschen die man nicht kennt und einschätzen kann. Die beiden hatten den Heilbronner Weg absichtlich nicht eingeplant, weil sie es sich gemäss den Beschreibungen nicht zugetraut hatten, sich aber in der Rappenseehütte dann von irgendwelchen Leuten, die die Gefährlichkeit herabspielten dann doch überreden liessen. Gut, ihnen ist zum Glück nichts passiert, aber sie liefen komplett Limit und nach dem Unfall, den sie live miterlebt hatten, war für sie das Thema gegessen. Für den Moment zumindest. Mir hat die Geschichte mal wieder gezeigt, dass die Berge natürlich nicht gefahrlos sind und man als erfahrener Berggänger nie solche dummen Empfehlungen abgeben sollte wie: «das schaffst du schon, ist alles nicht so wild. Du bist ja fit». Da muss man immer sehr genau hinhören und wenn man das Gefühl hat, dass jemand etwas nicht stemmt, eher davon abraten, was ich auch schon gemacht habe. Besonders als die eine der beiden dann noch sagte, dass sie nicht schwindelfrei sei. Phweeee... da sprach wirklich alles dagegen, die beiden auf den Heilbronner Weg zu schicken, gerade bei den aktuell ziemlich kritischen Bedingungen mit dem vielen Schnee.
Ach ja, eine Erklärung bin ich wegen des Untertitels noch schuldig. Bei Wiki habe ich gelesen, dass Mädelegabel gar nichts mit Mädele, sprich Mädchen zu tun hat, sondern vom Wort Mähder her kommt, was soviel wie «gemähte Bergwiese» heisst. Und die Gabel leitet vom Dreigestirn der drei Gipfel ab, die wie eine Gabel aussehen. Habe fertig.